21.07.2008Covadonga VerlagTdF-Special Teil 5: Zwei ausgezehrte Tiere

Am Mittwoch wird ein für alpine Skifreuden erbautes Retortenstädtchen in den französischen Alpen wieder zum Epizentrum der Radsportwelt:
Alpe d´Huez. Vor genau einem Vierteljahrhundert siegte eben dort ein kleiner niederländischer Kletterer - genau wie zwei Jahre zuvor bei seinem Tour-Debut. In seinem autobiografischen Briefroman erinnert sich
Peter Winnen an den 19. Juli 1983 und sein Duell mit Jean-Rene Bernaudeau.
Wie in aller Welt ich dort hinaufkam, tut nichts zur Sache, doch dass ich auf dem Podium stand, war unbestreitbar. Zum zweiten Mal innerhalb von drei Jahren hatte ich die Etappe nach Alpe d’Huez gewonnen. Unter den Zuschauern auf der gegenüberliegenden Straßenseite suchte ich sie, die versprochen hatte, mich auf dem Berggipfel zu erwarten – sie, die bereits zwei Wochen lang mein telefonisches Wehklagen mitangehört hatte. Für sie und für niemand anders stand ich auf diesem Siegertreppchen und grinste und strahlte.
Die Etappe von La Tour-du-Pin nach Alpe d’Huez war 223 Kilometer lang. Nicht die Entfernung war das Problem, sondern das Profil. Die Parcoursplaner hatten es gewagt, eine Etappe über Col du Cucheron, Col du Granier, Côte de la Table, Col de Grand Cucheron, Col du Glandon hinauf nach Alpe d’Huez zu führen. Es war die Art von Streckenprofil, von der die Tour de France zehrte.
Was mir von diesem Tag in Erinnerung blieb, ist Chaos. Vor allem Chaos. Pascal Simon gab auf und die Tour ging ohne Gelbes Trikot weiter. Von den ersten Kilometern an wurde angegriffen, gepokert und geblufft. Es gab Opfer. In schnellem Tempo wurde unterwegs die Rangfolge in der Gesamtwertung über den Haufen geworfen. Um ehrlich zu sein: Nicht selten hatte ich Verlangen nach dem Gnadenschuss. Es ist kaum zu glauben, wie schlecht ich mich gefühlt habe. Der Körper war blockiert, er war verstopft. Was mich weiter trieb? Die sture Hoffnung, dass sich die Blockade löste.
Nach stundenlangem Rennen brachte der Glandon endlich Ordnung ins Chaos. Alles, was entkommen war, strauchelte auf dem zwanzig Kilometer langen Anstieg. Eine Spitzengruppe von neun Fahrern schleppte sich schließlich über den Gipfel. Unter ihnen war der im Moment theoretisch in Führung liegende Laurent Fignon, ein »Domestike von Hinault« und Debütant. Ebenfalls unter ihnen: Johan van der Velde und ich. Raleigh hatte also zwei Mann vorne. Wir sausten hinunter in die Tiefe.
Die Abfahrt vom Glandon wurde durch ein Plateau unterbrochen. Die Straße stieg kurz leicht an. In der Spitzengruppe belauerte man einander. Teamchefs fuhren längsseits heran und suchten Kontakt zu ihren Fahrern. Da war Post. Wie es um die Dinge stand, wollte er wissen.
»Mausetot, wirklich mausetot«, antwortete ich wahrheitsgemäß.
Während des Anstiegs hatte sich der Körper von der Blockade befreit, doch gleich darauf hatte sich Erschöpfung breit gemacht. Es machte die Situation noch ernster, als sie ohnehin schon war. Ob ich etwas aus dem Auto bräuchte? Ich brauchte Wasser, Schmerzmittel, Koffein, krampflösende Mittel, Zucker, viel Zucker! Ich bekam, was ich verlangte, und ich bekam auch einen Rat: »Versuch, in einer kleinen Gruppe mit zu entkommen.«
Ich dachte zuerst, dass Post Witze machte. Er sah natürlich ein erneutes Chaos voraus, denn durch die Trödelei der Spitzengruppe schlossen viele abgehängte Fahrer wieder auf. Eine kurze Beratung mit Johan ergab, dass auch er ausgepumpt war. Wir würden gut daran tun, uns ruhig zu verhalten – schon gar, als vier Mann davonstoben, darunter auch mein Mannschaftskamerad Veldscholten. Dieser fühlte sich noch einigermaßen sicher, so musste er es heute für die Mannschaft richten. Dennoch kam ich kurz darauf in günstiger Position an den Fuß des Anstiegs nach Alpe d’Huez. Drei Mal darfst du raten warum.
Nach dem Plateau führte die Straße Kilometer lang steil nach unten. Ich gönnte meinen Beinen Ruhe. Ganz vorne im Peloton spielte ich mit der Schwerkraft und dem Luftwiderstand. Plötzlich kam Bernaudeau vorbeigesaust. Er rief etwas, das so klang wie: Anschließen! Ich tauchte in den Windschatten ein und schon waren wir auf und davon. Wir fuhren wie Besessene den Berg hinab und schlossen zu den Fahrern an der Spitze auf. Unten im Tal opferte sich Arnaud für seinen Mannschaftskapitän Bernaudeau auf, Veldscholten opferte sich auf für Winnen und das Unvorstellbare geschah. Zu zweit ließen sie die Fignon-Gruppe um fast fünf Minuten hinter sich zurück. Bernaudeau fuhr theoretisch im Gelben Trikot. Und an welcher Stelle der Gesamtwertung befand ich mich in diesem Moment? Knapp auf dem Siegertreppchen, wenn ich richtig gerechnet hatte. Das Podium! Die Blitzaktion hatte Türen geöffnet, die schon ein für allemal verschlossen schienen.
Der Schlussanstieg begann. Mit einem Schlag verringerte sich die Geschwindigkeit um etwa fünfunddreißig Stundenkilometer. Das Rauschen des Windes in den Ohren wurde abgelöst durch das dumpfe Brummen von Autos und Motorrädern. Es roch auch plötzlich nach einer viel befahrenen Straße. Bernaudeau und ich zogen durch und lösten uns vom Rest.
Das alles ging mit einer solchen Selbstverständlichkeit vonstatten, dass es mich überraschte. Ich kann nicht behaupten, dass unser Tempo spektakulär war. Doch ich kann mich auch täuschen. Es wurde höchste Zeit, die Formalitäten zu regeln.
»Du das Gelbe Trikot, ich die Etappe, abgemacht?« Ich müsste schon verrückt sein, wenn ich erst mit ihm nach oben fahre, um am Ende mit leeren Händen vor meine Teamkameraden zu treten.
Keine Antwort war auch eine Antwort. Hatte er denn kein Vertrauen mehr in die gemeinsame Sache? Saß er es aus und wartete er auf eine Eingebung des Heiligen Geistes, die ihm neue Kraft gab?
Gewiss, er war schon früh während der Etappe zum Angriff übergegangen. Offenbar hatte er sich diesen Tag ausgesucht, um, begünstigt durch die Gnade von Hinaults kaputtem Knie, den französischen Thron für sich einzufordern. Der Glandon hatte ihn zurückgeworfen, um ein großes Stück sogar.
Ich wiederholte das Angebot. Keine Reaktion außer einem leichten Kopfschütteln. Sehr hinterlistig, ohne mich aus dem Sattel zu erheben, erhöhte ich auf gut Glück ein wenig die Geschwindigkeit. Schon nach dreihundert Metern gab ich es wieder auf: In meinem Körper schrillten die Alarmglocken. Bernaudeau war mir gefolgt. Dazu war er also noch fähig.
Wir fielen in unser voriges Tempo zurück – einander in nichts nachstehend und einander auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. So kam es, dass Bernaudeau das Gelbe Trikot wieder los war, noch bevor er es überhaupt gesehen hatte. Und so kam es auch, dass ich vom Siegertreppchen purzelte, ohne es je betreten zu haben. Wir konnten nur noch darauf hoffen, dass die, die hinter uns waren, einer nach dem anderen explodierten.
Als ich noch rund fünf Kilometer vor der Brust hatte, war es um mich geschehen. Die Beine wippten auf den Pedalen, und das Herz wippte im Brustkasten. Ein Kolumbianer und ein Franzose schienen nun rasch näher zu kommen. Der Etappensieg, spukte es mir durch den Kopf, nur der Etappensieg kann diese verkorkste Tour jetzt noch retten.
Ich war meiner Kräfte beraubt, doch noch längst nicht willenlos. Ein einziger quälender Gedanke, ein jagender Instinkt, ein verbissener Rausch: Dieses Rennen muss ich gewinnen, selbst wenn es mich eine Nacht auf der Intensivstation kosten würde. Bernaudeau dachte offenbar genauso. Jegliche Farbe war aus seinem Gesicht verschwunden. Er wippte und kurbelte, als ob er fürchtete, zu spät zu seinem eigenen Begräbnis zu kommen.
Zwei Kilometer weiter waren wir noch immer zusammen. Jesses, was da an Leuten am Hang stand! Die Zuschauer machten das Rennen wieder zu einem Fest mit ihrem Jubel und ihren Spruchbändern. Und sie hörten nicht auf, mit Wasser zu spritzen. Die Hinterbacken rutschten auf dem Arschleder hin und her. An der Innenseite der Oberschenkel und Waden rann lauwarmes Wasser in die Schuhe. Trotzdem zitterte ich vor Kälte. Dann sah ich da einen Mann stehen. Er streckte einen Arm aus. An dem Arm war eine Hand und in der Hand ein Glas Bier.
»Greif zu!«
Es war ein niederländischer Arm. Das Glas war fast mit einem Zug leer. Bernaudeau flehte um den kleinen Rest Schaum. Ich gab ihm das Glas. Ein sympathischer Kerl, dieser Jean-René, das hatte ich immer schon gefunden. Wie wunderbar doch die Wirkung von ein bisschen Alkohol auf einen ausgelaugten Körper ist! Die Beine waren wie betäubt, der Magen brannte und das Brennen stieg nach oben: Alpe d’Huez gehört mir. Ich zog das Tempo etwas an. Bernaudeau reagierte. Kurz darauf beschleunigte ich noch ein wenig mehr. Wieder folgte er mir, der Kerl ließ sich nicht abschütteln. Ich beschloss, Kraft zu sammeln für die entscheidende Attacke auf dem letzten ansteigenden Kilometer.
Der Angriff blieb aus. Zumindest hatte der Versuch diesen Namen nicht verdient. Alkohol war offenbar ein Dopingmittel von besonders flüchtiger Wirkung. Bernaudeau parierte die Attacke. Wir fuhren wieder Seite an Seite. Dann mussten wir eben um den Sieg sprinten.
Wir hatten den bebauten Bereich von Alpe d’Huez erreicht. Zwei ausgezehrte Tiere belauerten einander und kamen fast nebeneinander zum Stehen. Zwei Anti-Sprinter, die ihrer Sache beide nicht sicher waren. Ich sah mich um. Dieser Kolumbianer und der Franzose waren noch nicht in Sicht. Die Straße stieg nicht mehr an, und die letzte Kurve kam näher. Ich durfte nicht als Erster in die letzte Kurve gehen, dann wäre alles verloren.
Welchen Gang sollte ich auflegen? Das Stück hinter der letzten Kurve stieg noch einmal giftig an. Großes oder kleines Kettenblatt? Für einen Sprint war das große Kettenblatt unverzichtbar, wie mir schien. Und hinten welches Ritzel? Siebzehn oder neunzehn Zähne? Bernaudeau hielt es plötzlich nicht mehr aus. Er ging als Erster in die letzte Kurve. Ich ging in seinem Windschatten mit. Es kam nun darauf an, im richtigen Augenblick hinter seinem Arsch auszuscheren. Der Schlenker, den er austeilte, als ich zum Überholen ansetzte – nur ein Reflex. Das funktionierte also noch. Obwohl die Beine schon längst nicht mehr zu einem Pedaltritt taugten, traten sie in die Pedale. Unsere Lenker berührten sich kurz. Au, ich habe einen zu großen Gang eingelegt. Es ist zu spät, noch irgendwas zu ändern. Nebel. Nur der Etappensieg!
Der Schatten neben mir im Nebel wollte nicht von mir weichen. Die Beine wurden hart wie Stein. Ich spürte Zorn, sehr schmerzhaften Zorn. Noch fünfzig Meter. Jean-René, hör doch zu, eine Frau erwartet mich hier oben. Fünfzehn Meter noch ungefähr. Ich hatte ein Gefühl, als ob ich ein Schwert schlucken müsste. Er gab nach. Er gab nach? Ich ging aus mir heraus und glitt, gackernd vor Freude, zwischen hastig zur Seite springen Fotografen hindurch.
Im nächsten Augenblick baumelten meine Füße zwanzig Zentimeter über dem Boden. Ruud hatte mich von meinem Rad gehoben und rannte mit mir herum. Ich war nun genauso groß wie er. Doch wo war bloß Yvonne?
Gut eine Stunde später, in einem kleinen, muffig riechenden Zimmer des Hotels La Dauphinoise: Johan, Yvonne und ich. Das Zeremoniell, die Urinkontrolle und die Interviews hatte ich hinter mir. Endlich Ruhe. Die Balkontür stand offen.
Zu dritt ließen wir die Fete steigen. Johans Beine waren im Schlussanstieg nach Alpe d’Huez gnadenlos weggeknickt, doch er war ebenso froh über den Etappensieg wie ich. Yvonne zündete sich eine Zigarette an.
»Gib mir auch mal eine«, sagte ich. Johan machte ebenfalls mit. Wir rauchten.
»Sie sind uns noch nicht los«, sagte Johan.
Unten auf der Terrasse hörte ich die Stimmen von Post und Ex-Premierminister Dries van Agt, der die Etappe als Ehrengast im Teamfahrzeug mitverfolgt hatte. Als ich am Hotel La Dauphinoise ankam, hatte er mir, noch groggy von der rasanten Kurvenfahrerei, sehr begeistert, aber dennoch auf eine gewinnende Weise gratuliert: Er klemmte meine Hände väterlich zwischen die seinen.
Wir zündeten uns noch eine Zigarette an und danach noch eine. Wenn Post und Van Agt von der Hotelterrasse nach oben geschaut hätten, dann hätten sie weißen Nebel über den Balkon hinwegziehen sehen.
»Die Tour ist noch nicht verloren«, sagte Johan abwesend.
Wie jung waren wir doch damals und wie empfindsam. Wir feierten unser kleines Fest, als ob es das letzte Fest wäre, das es auf dieser Tour zu feiern gab. Genauso hatte ich auch die Etappe vollendet: als ob die nächste erst nach dem Winter ausgefahren würde.
Aus:
Peter Winnen: "Post aus Alpe d`Huez", Covadonga Verlag 2005, ISBN 978-3-936973-14-3
Ebenfalls von Peter Winnen: "Gute Beine, schlechte Beine", Covadonga Verlag 2008, ISBN 978-3-936973-38-8
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